Hat man sein Herz ersteinmal an eine Band verloren, wünscht man sich von dieser Band, dass sie sich möglichst niemalsnie verändert. AC/DC, Motörhead oder die Ramones sind auf dieser Schiene jahrzehntelang unfallfrei gefahren. „Ihr seid nicht die Ramones, denkt euch was neues aus“, textet die Trierer Punkrock-Kapelle Love A auf ihrem tollen Debütalbum, ein Appel zu mehr Mut und Kreativität! Eine gravierende musikalische Veränderung geht allerdings selten kritiklos an einer Band vorüber (bestes Beispiel in diesem Jahr: Dredg). Als absolut begrüßenswert empfand ich die Erweiterung des musikalischen Kosmos allerdings bei Iron & Wine und Ghost Of Tom Joad. Dass „Black Musik“ von Ghost of Tom Joad in kaum einer Jahresbestenliste auftauchte und die Band sich inzwischen leider aufgelöst hat, beweist auf schmerzlichste Art und Weise, dass Musik eben doch etwas sehr subjektives ist.
Meine Alben des Jahres:
1.Iron & Wine – Kiss Each Other Clean
„Kiss each other clean“ wirkt auf mich wie der Reflexhammer, mit dem der Onkel Doktor gewöhnlich seinen Patienten unters Knie klopft. Ganz gleich wie sehr sich das Gehirn dagegen wehrt, der Körper wird sich unweigerlich zum psychedelischen, ausschweifenden und aufwändig instrumentierten Geplucker des bärtigen Songwriters Sam Beam bewegen. Dabei ist es nicht mal so, dass Beam von belanglosen oder uninteressanten Texten ablenken müsste. “Me and Lazarus” zum Beispiel stellt für mich die herzlichste Loser-Hymne des Jahres dar und selbst dann, wenn Zeilen wie „He’s an emancipated punk and he can dance, but he’s got a hole in the pocket of his pants“ sich quasi von selbst mitsingen, hat man sich an dieser kunterbunten Platte noch lange nicht satt gehört. Im Gegenteil, man hört sie wieder und wieder und wieder und wieder…
2. TV On The Radio – Nine Types Of Light
Der Genuss der zehn Songs auf „Nine Types Of Light“ gleicht einem auf dreiundvierzigeinhalb Minuten verkürztem Wellness-Wochenende. „Second Song“ und „Keep Your Heart“ lullen mit Falsett-Stimme, Bläsern und rhythmischen „Uh Uh Uh“s den verspannten Hörer flauschig und wärmend ein, bevor „You“ und „No Future Shock“ die kalte Dusche und eine besonders kräftige Massage hinterher schieben. Mit „Killer Crane“ geht es rauf auf die Dachterrasse, schnell noch den blutroten Sonnenuntergang überm Meer beobachten, der auf dem Cover abgebildet ist. Dann wieder runter. Hunderte wohltuende Düfte in Form von verschiedensten Instrumenten, Melodieausbrüche in alle erdenklichen Richtungen wie riesige Blubberblasen in einem Whirpool. Zu „Repetition“ noch kurz eine Runde nackt um die Anlage gesprintet, dann Einatmen, Ausatmen, zur Ruhe kommen. Maniküre, Pediküre, Gurkenmaske. Fertig. „Nine Types Of Light“ ist ausnahmsweise ein chartkompatibles Album voller Gefühlsduseleien, das einen nicht in Selbstmitleid versinken lässt, sondern positive Ernergien freisetzt. Hurra!
3. Ghost Of Tom Joad – Black Musik
Wie kann man denn dieses Album mit all seinen hymnischen Schlüpfrigkeiten („I’m just a dog and you’re all that I need!“) nicht lieben? Wie bereits angekündigt, haben die Münsteraner auf ihrem dritten und (vorerst) letzten Album vieles anders gemacht. Das Schlagzeug auf dem Cover sowie der Song „My Body is a drum machine“ erweisen sich dabei als unübersehbare Wegweiser der neuen Richtung. Rhythmus ist die Devise. Darüber hinaus besticht das Album durch melancholisch-poppige Keyboard-Sphären sowie die ein oder andere 60er Jahre Soul-Anspielung („Snow in the summertime“, „The Sound of ’67“). Für mich persönlich ist die Bandauflösung nach einem solch ergreifenden Album nichts anderes als ein klassischer Fall von „Aufhören, wenn es am schönsten ist“.
4. The Pains Of Being Pure At Heart – Belong
Selten hat eine erste Single so neugierig auf ein Album gemacht, wie „Belong“ auf das gleichnamige Zweitlingswerk der süßen Indie-Lieblinge Pains Of Being Pure At Heart. Da schienen sie die Zuckerwatte gegen die verzerrten Gitarren der Smashing Pumpkins getauscht zu haben. Bedenkt man aber, dass der Produzent des Albums sich Flood nennt und unter anderem das monumentale 90er Jahre Smashing Pumpkins-Doppelalbum „Mellon Collie and The Infinite Sadness“ begleitete, ist das alles nicht mehr sonderlich überraschend. Was am Ende bleibt, sind nach wie vor die unschuldigsten Melodien und Refrains, die die Indie-Welt im Moment zu bieten hat: „She was the heart in your heartbreak / She was the miss in your mistake / And no matter what you take / you’re never going to forget“. Damit ihm derlei herzerweichendes wieder einfiele, würde Morrissey auf Büffeljagd gehen.
5. Touché Amoré – Parting The Sea Between Brightness And Me
Touché Amoré und La Dispute haben sich 2011 als zwei der leuchtendsten Hardcore-Raketen in den Hype-Himmel katapultieren lassen. Beide werden fast ausnahmslos in einem Atemzug genannt, wenn von „The Wave“ die Rede ist. Wobei La Dispute mit ihrem vor Tiefsinnigkeiten fast überlaufenden sechzigminütigen Opus „Wildlife“ in der Kritiker- und Fangunst leicht vorn zu liegen scheinen. Mir liegt es fern, dem La Dispute-Album die Qualität abzusprechen. Allerdings fehlen mir zur Durchdringung bisher schlichtweg Geduld und Konzentration. Touché Amoré dagegen hauen dreizehn Songs in 21 Minuten raus. Qualitativ fallen sie gegenüber La Dispute aber keineswegs ab, im Gegenteil: Das Album ist abwechlungsreicher als der Großteil der Genre-Brüder und Schwestern und in keiner der 21 Minuten auch nur annähernd langweilig. Die Texte sind pointiert und es wert, ins Gesicht tättowiert zu werden: „If actions speak louder than words / I’m the most deafening voice you’ve heard / i’ll be that ringing in your ears / that will stick around for years.“ So und nicht anders! Verdient hätten sie es allemal.
6. Wye Oak – Civilian
Was beim ersten oberflächlichen Antesten des Openers „Two Small Deaths“ noch etwas einschläfernd wirkt, erscheint nach der Lektüre der Texte und dem dazugehörigen Live-Erlebnis, bei dem die mahnende Gitarre der Sängerin Jenn Wasner ihre gesamte Wirkung entfaltet, als lautleiser Seelenstriptease der begeisterndsten Sorte, holy holy holy! Und spätestens wenn die Dame dann pseudounschuldig die ersten Zeilen des letzten Songs darbietet („If you should doubt / my heart, remember this / that i could lie to you / if i believed it was right to do…“), ist es vollends um den Autor dieser Zeilen geschehen.
7. Other Lives – Tamer Animals
Das Haldern Pop Festival ist auf deutschem Boden das musikalische Open Air-Ereignis, bei dem sich die Besucher Jahr für Jahr darüber erhitzen, welch zauberhafte Bands sie im Vorjahr verpasst hätten und das ihnen das doch ganz bestimmt nie wieder passieren wird. Obwohl auch mir die musikalische Qualitätsdichte in diesem kleinen gallischen Dorf theoretisch bewusst ist, habe ich mir den Other Lives-Auftritt aufgrund von Faulheit geschenkt. Ein paar Wochen später flog mir das Album zu, das ich inzwischen höher einschätze als alles, was die Fleet Foxes bisher fabriziert haben. Darauf findet der gemeine Fan von bärtiger Musik mit mehrstimmigem männlichen Choral-Gesang und engelsgleichen Melodien alles, was das (Folk)Herz begehrt. Dieses Jahr guck ich mir beim Haldern bestimmt alle Bands an…
8. The Kills – Blood Pressures
Der Vorgänger „Midnight Boom“ war schon klasse, aber was Alison Mosshart und Jamie Hince auf „Blood Pressures“ an griffigen und groovigen Leckerbissen auf dem (Platten)Teller servieren, ist feinste Haute Cuisine. Die einzige Gräte im Lachsfilet stellt für mich die belanglose Ballade „Wild Charms“ da, aber an dieser Gräte wird man sich bei einer Songlänge von 1:15 Minuten ganz bestimmt nicht verschlucken.
9. Black Keys – El Camino
Mit zwei Grammys im Rücken musiziert es sich leichter. Dan Auerbach und Pat Carney alias The Black Keys nahmen den Nachfolger ihres Erfolgsalbums „Brothers“ im neuen Aufnahmestudio in Nashville auf (natürlich wieder mit Danger Mouse – never change a winning team) und knüpfen genau da an, wo sie vor anderthalb Jahren aufgehört haben, mit noch treibenderen Garagen-Bluesrock-Nummern. Aber – und das vergessen viele – das machen sie ja bereits seit zehn Jahren. Sieben tolle Alben und kein Ende in Sicht. Wenn es nicht erst im Dezember erschienen wäre, hätte sich das haarige Bluesrock-Monster mit dem klingenden Namen „El Camino“ in dieser Liste sicher noch ein paar Plätze weiter nach vorn gewuchert.
10. Crystal Fighters – Star of Love
Wer nach roten Fäden giert und sich gern an lyrischen Ergüssen ergötzt, möge bitte weiterhin Bon Iver hören. Allen anderen seien die zappligen und zur Hyperaktivität animierenden Hits dieser (pseudo)baskischen Indie-Elektro-Ballermänner mit den herzlichsten Grüßen in den Herzschrittmacher geschraubt.
Die Songs des Jahres
Obwohl ich beim Mainzer Campusradio „arbeite“ und als DJ „auflege“, bin ich nur in Ausnahmefällen ein Freund von einzelnen Songs oder Singles. Ich skippe auch nicht in Alben herein oder überspringe einzelne Songs, sondern höre Alben ganz konservativ von vorn bis hinten. Deshalb bereitet es mir einige Mühe, eine Liste meiner zehn Songs des Jahres aufzustellen. Auf meinen Lieblingsalben des Jahres mag ich fast ausnahmslos alle Songs, weshalb meine Songs des Jahres sich eher auf Alben befinden, die mich in ihrer Gesamtheit nicht vollends oder nachhaltig überzeugen konnten (Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel).
1. Kimya Dawson – Walk Like Thunder
2. Defeater – I Don’t Mind
3. The Antlers – Every Night My Teeth Are Falling Out
4. The Black Keys – Lonely Boy
5. The Age Of Sound – Just Wanna Let You Know
6. Tyler The Creator – Yonkers
7. J Mascis – Not Enough
8. Adolar – Tanzenkotzen
9. The Whigs – Kill Me Carolyne
10. Retro Stefson – Kimba
Konzerte des Jahres
Da ich in der zweiten Hälfte des Jahres 2010 und der ersten Hälfte des Jahres 2011 unheimlich viele (zum Teil grandiose) Konzerte gesehen hatte, machte sich nach der Festivalsaison im vergangenen Jahr zum ersten Mal überhaupt in meinem Leben eine leichte Konzertmüdigkeit breit. Mir fehlte für ein paar Monate der Antrieb, mir jedes Konzert in der Umgebung anzusehen, das mir annähernd hätte gefallen können. Das lag zum einen daran, dass mein Bachelor-Studium langsam zu Ende geht und sich eine dezente Nervosität breit macht, und zum anderen daran, dass ich nicht wüsste, was das Konzert von Warpaint in der Kölner Kulturkirche toppen sollte. Die Kirche besaß an diesem Abend die beeindruckendste Akustik, die ich je bei einem Rockkonzert erleben durfte. Es schien, als würde aus jedem kleinsten Winkel dieses riesigen Gebäudes ein Ton der ohnehin grandiosen Warpaint erklingen. Ich kann mich an kein anderes Konzert erinnern, bei dem ich mich weder getraut habe aufs Klo zu gehen, noch Getränke zu kaufen, noch zu reden, geschweige denn zu atmen. Das Konzert war einfach nicht von dieser Welt!
Hier könnt ihr auf jeden Fall meine Top 5 der Konzerte (exklusive Festivalauftritte) des vergangenen Jahres nachlesen:
1. Warpaint (28. Juni, Kulturkirche Köln)
2. Battles (6. Dezember, Das Bett Frankfurt)
3. Herrenmagazin (24. Juni, Uebel & Gefährlich Dachterrasse Hamburg)
4. The Thermals (15. April, Sinkkasten Frankfurt)
5. Esben and The Witch (17. Mai, Mousonturm Frankfurt)
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Nachrichten zu den Jonas Brothers…
die indiestreber ehren die klassenbesten. teil 4: thomas <b>…</b>…