Nachdem ich mir inzwischen so viele verschiedene Jahrescharts von so vielen verschiedenen Menschen angeschaut habe, kann ich sie ehrlich gesagt nicht mehr sehen. Wenn man auf ein Jahr zurückblickt, dann kommen einem doch sowieso eher einzelne Momente in den Sinn – oft wild durcheinanderfliegend und höchstens locker verknüpft durch Assoziationen – als irgendwelche Listen. Aber es macht ja doch immer wieder Spaß, seine eigenen Favoriten gegeneinander abzuwägen und zu ordnen, Ranglisten aufzustellen und umzuschmeißen – auch wenn man an dem Kampf dabei beinahe verzweifelt. Ich hoffe jedenfalls, ihr habt noch ein offenes Ohr für die Musik, die mich im vergangenen Jahr am meisten begeistert hat.
Konzerte des Jahres 2011:
Auch wenn meine mangelnde Aktivität auf diesem Blog anderes vermuten lässt: Ich habe 2011 so viel Musik gehört wie in keinem Jahr zuvor, sowohl auf dem iPod und der heimischen Anlage als auch bei Konzerten und Festivals. Wenn ich richtig nachgezählt habe, war ich auf 53 einzelnen Konzerten sowie auf fünf Festivals – insgesamt habe ich also locker eine dreistellige Anzahl an Bands live gesehen. Das ist mal wieder ein Rekord für mich, und deshalb gibt es auch von mir in diesem Jahr eine Konzert-Top 10. Auf nähere Erläuterungen will ich dabei mal verzichten – wer da war, weiß, was los war,1 wer nicht da war, weiß, dass er etwas verpasst hat.
1. The Thermals @ Sinkkasten Arts Club Frankfurt, 15.04.11
2. HEALTH @ Berlin Festival, 09.09.11
3. Battles @ Das Bett Frankfurt, 06.12.11
4. Les Savy Fav @ Melt! Festival, 17.07.11
5. Sleigh Bells @ Meet Facory Prag, 01.02.11
6. Listener @ Haus Mainusch Mainz, 07.08.11
7. EMA @ Hafen 2 Offenbach, 25.09.11
8. Dÿse @ Nachtleben Frankfurt, 28.04.11
9. Mogwai @ Berlin Festival, 10.09.11
10. Zola Jesus @ Sinkkasten Arts Club Frankfurt, 20.11.11
Mein Festival des Jahres war ganz klar das Berlin Festival, und das nicht nur, weil es zwei Konzerte davon in meine Bestenliste geschafft haben. Das gesamte Line-Up war einfach wie persönlich auf mich zugeschnitten und die Organisation sowie das Flughafen-Ambiente drumherum ließen auch nichts zu wünschen übrig.
Video des Jahres 2011:
Battles – My Machines (feat. Gary Numan)
Wer hat sich nicht schonmal so gefühlt wie der Kerl auf der rechten Rolltreppe? Nur dass im echten Leben nicht plötzlich Gary Numan zum Mikrofon greift und ein netter Herr mit Schnurrbart und Keyboard klimpernd vorbeifährt.
Alben des Jahres 2011:
10. We Were Promised Jetpacks – In The Pit Of The Stomach
We Were Promised Jetpacks zeigen sich auf ihrem zweiten Album ein ganzes Stück krachiger und weniger zugänglich als auf ihrem Debüt. Auf den ersten Blick vermisst man dadurch die Hits, doch nach einer Weile bemerkt man, dass den Schotten auf „In The Pit Of The Stomach“ neben charakteristischen Ohrwürmern wie „Medicine“ auch die gewagte Expansion in Richtung Sonic Youth („Picture Of Health“) und Mogwai („Sore Thumb“) gelungen ist. Hut ab für diese Weiterentwicklung!
9. Zola Jesus – Conatus
Mit Gothic hatte ich nie viel am Hut, aber neben einer tiefergehenden Erkundung der elektronischen Gefilde hat sich mein Musikgeschmack im vergangenen Jahr vor allem auch immer weiter den düsteren Klängen zugewandt. Und da trifft man dann eben auf die gerade mal 22-jährige Nika Roza Danilova alias Zola Jesus. „Conatus“ geht in etwa so: Eine Einsiedlerin singt sich mit einer atemberaubenden Stimme die Dämonen aus dem zierlichen Leib, dazu klappern Synthies und Drum Machine, und man selbst steht ergriffen daneben.
8. The Kills – Blood Pressures
Etwas weniger extravagant und ausgefallen als auf dem großartigen Vorgänger “Midnight Boom“ geht es auf „Blood Pressures“ zu. The Kills schreiben nun eben tolle Popsongs statt tollen Nachtschattensongs. Wobei, genug verruchte Dunkelheit ist auch auf diesem Album vorhanden, Jamie Hince und Alison Mosshart hauchen und fauchen sich immer noch genauso sexy an – und diese pingpongartigen Klatschgeräusche bei einigen Songs sind schon ziemlich geil!
7. Yuck – Yuck
Drei Londoner Burschen und ein Mädel verkörperten im vergangenen Jahr die angenehmste Seite des Neunziger-Revivals: Yuck verbinden auf ihrem selbstbetitelten Debütalbum drängelnden Indie Rock, sehnsuchtsvolle Shoegaze-Gitarren und verträumte Slacker-Balladen, ohne auch nur einen Moment altbacken zu klingen. Klar kann man die Vorbilder der Band in beinahe jedem Ton heraushören, aber das macht die Songs nicht weniger großartig und zeitlos.
6. Battles – Gloss Drop
Auch ohne Tyondai Braxton und seine hochgepitchten Outer-Space-Vocals klingen Battles wie aus der fernen Zukunft herübergebeamt. Auf „Gloss Drop“ kann man drei fantastischen Musikern dabei zuhören, wie sie sich Paläste aus Rhythmen und Klängen bauen, und die Synapsen der Hörer darin fröhlich Pogo miteinander tanzen lassen. Und für die nötige Auflockerung zwischendurch sorgen vier handverlesene Gastsänger.
5. James Blake – James Blake
Wie schnelllebig die Musikwelt heutzutage ist, merkt man wohl am deutlichsten daran, dass der Hype um James Blake, der Anfang des Jahres 2011 in sämtliche Feuilleton-Himmel gelobt wurde, inzwischen bereits wieder deutlich abgeklungen ist. Doch Hype hin oder her, von dem vermeintlichen Wunderkind kann man sich noch viel erwarten, und mit seinem Debütalbum hat er sich außerdem einen Platz in dieser Liste redlich verdient. Die Songs darauf oszillieren zwischen Avantgarde und Pop, Dubstep wird verletzlich, und selten ist Musik der Stille so nahe gekommen.
4. Touché Amoré – Parting The Sea Between Brightness And Me
In nur 20 Minuten pflügen Touché Amoré die Hardcore-Landschaft gewaltig um. Man staunt immer wieder, wie die Band es schafft, so viel in ihre Anderthalb-Minuten-Songs zu stopfen: Tagebuchartige Texte voll von Selbstzweifeln und Heimatlosigkeit, furiose Ausbrüche und atmosphärische Verschnaufpausen. Das Strophe-Refrain-Prinzip geben sie zugunsten eines songübergreifenden Spannungsaufbaus auf, der das Hören von „Parting The Sea Between Brightness And Me“ zu einer einzigartigen adrenalingeladenen Achterbahnfahrt macht.
3. PJ Harvey – Let England Shake
Man muss schon genauer hinhören, um das Beben zu vernehmen. Denn „Let England Shake“ ist wahrscheinlich das zarteste Protest- und Anti-Kriegsalbum, das je aufgenommen wurde. Feengleich und unauffällig schleichen sich die Songs in die Hirnwindungen, um den dortigen Endorphinhaushalt gehörig durcheinander zu wirbeln. Und allein dafür, wie PJ Harvey das Wort „England“ artikuliert, lohnt es sich bereits, dieses Album zu hören. Vielleicht das Beste, was die Dame jemals gemacht hat – und das will ziemlich viel heißen.
2. Future Islands – On The Water
Am Anfang und am Ende erklingt das beruhigende Rauschen des Meeres, dazwischen trägt Samuel T. Herring mit seiner einmaligen Stimme traurige und hoffnungsvolle Geschichten über das Leben und die Liebe vor, während sich die Musik vor der romantisch-düsteren Seite der Achtziger Jahre verneigt. „On The Water“ ist ein Album über quälende Erinnerungen und die Schönheit heilender Wunden, dessen Sogwirkung mit jedem Hören stärker wird. (längere Rezension)
1. EMA – Past Life Martyred Saints
Schon im Juni 2011 war ich mir ziemlich sicher, dass das hier mein Album des Jahres werden wird: So sehr hat mich „Past Life Martyred Saints“, das Solodebüt von Erika M. Anderson alias EMA damals überrumpelt und mitgerissen. Und tatsächlich, seitdem trage ich ihre Stimme mitsamt des berauschenden Drone-Folk in meinem Kopf und will nicht mehr darauf verzichten. Seit „Post-Nothing“ von Japandroids im Jahre 2009 hat mich kein Album mehr so gekickt. (längere Rezension)
Wenn ich mir meine Top 10 so anschaue, erscheint es mir bemerkenswert, wie viele Frauen daran beteiligt sind.2 Wenn man dann noch die ebenfalls gelungenen Alben „Feel It Break“ von Austra und „w h o k i l l“ von tUnE-yArDs dazunimmt, ist man glatt dazu geneigt, 2011 als das Jahr der starken Frauen in der Indie-Welt zu bezeichnen. Aber bevor man deshalb zu optimistisch in die Zukunft blickt: Der Lana Del Rey-Backlash steht ja gerade vor der Tür…
Knapp an meiner Top 10 vorbeigeschrammt sind übrigens die Post-Rock-Pioniere Mogwai mit ihrem grandios betitelten Album „Hardcore Will Never Die, But You Will“, die Post-Rock-Erneuerer And So I Watch You From Afar mit „Gangs“, meine Indie-Folk-Lieblinge Okkervil River mit „I Am Very Far“ sowie La Disputes Storyteller-Hardcore-Platte „Wildlife“.
Songs des Jahres 2011:
1. EMA – California
Auch bei den Songs steht EMA völlig verdient auf dem ersten Platz. „California“ ist Abgesang und Hymne in einem – ein aufwühlender Stream Of Consciousness-Monolog unterlegt von sakralem Noise, der sich tief unter die Haut bohrt.
2. The Pains Of Being Pure At Heart – Belong
Wenn die übersteuerten Gitarren einsetzen, geht die Sonne auf und der Horizont scheint zum Greifen nah.
3. Yuck – Get Away
Auch hier klingen die Gitarren sehnsuchtsvoll nach der weiten Welt und dem grünen Gras auf der anderen Seite, das man so gern erreichen würde.
4. Future Islands – Balance
„You can clean around the wound, but if you want it to heal, it just takes time.“ Es sind keine Weisheiten, auf die man nicht von selbst gekommen wäre, aber doch solche, an denen man nicht vorbeikommt.
5. Mogwai – Rano Pano
Ganz so wie der Song selbst ist, lässt er mich auch zurück: ohne Worte. Aber dafür mit der allein durch Krach und Melodie geschaffenen Gänsehaut des Jahres.
6. Okkervil River – Wake And Be Fine
Auf dem diesjährigen Album von Okkervil River geht es viel um die Welt der Träume, und der beste Song darauf ist der übers Aufwachen.
7. Adolar – Tanzenkotzen
Auch wenn sie es nicht in meine Alben-Top 10 geschafft haben: Wenn es um deutschsprachige Musik geht, dann lagen Adolar im vergangenen Jahr ganz vorne bei mir. Besonders „Tanzenkotzen“, die wohl gelungste Hymne über das Dagegensein seit langem.
8. Cults – Abducted
Klang ein Song über das (metaphorische) Entführtwerden jemals so süß und ein Glockenspiel jemals so abgründig? Ich glaube nicht.
9. Rival Schools – Wring It Out
Die Post-Hardcore-Lichgestalt Walter Schreifels schreibt auch im Jahr 2011 noch große Songs zum Faust-in-die-Luft-Recken.
10. Battles – Ice Cream (feat. Matias Aguayo)
Dass potentielle Sommerhits nicht stupide klingen müssen, beweisen Battles mit diesem zuckrig-verstörenden Machwerk.
So, das war es erstmal mit meinem Jahr 2011. Doch weil einem im Nachhinein ja doch immer wieder Neues ein- und auffällt, was man in einem Jahr verpasst hat, gibt es in diesem Rückblick hier noch eine kleine zusätzliche Kategorie:
Alben des Jahres 2010, die ich erst 2011 gehört habe:
1. Listener – Wooden Heart
2. Sleigh Bells – Treats
3. Sex Jams – Post Teenage Shine
4. Efterklang – Magic Chairs
5. Future Islands – In Evening Air
6. Japanther – Rock’n’Roll Ice Cream
7. LCD Soundsystem – This Is Happening
8. Gold Panda – Lucky Shiner
9. Maps & Atlases – Perch Patchwork
10. Zola Jesus – Stridulum II
Und damit diese Liste nicht vollkommen unkommentiert und leblos hier steht noch ganz flott: Vier Bands davon habe ich im Frühjahr in meinem damaligen Domizil Prag live gesehen und bereits darüber geschrieben, Sex Jams sind die österreichische Antwort auf Sonic Youth, LCD Soundsystem habe ich durch ein selbstauferlegtes Hipster-Nachhilfeseminar kennen- und liebengelernt, Gold Panda trägt gerne Kapuzenpullis, über Future Islands und Zola Jesus war an dieser Stelle schon einiges zu lesen, und Listener kennt zwar kein Schwein,3 ihr unfassbar fantastisches Album „Wooden Heart“ sollte sich aber jeder Mensch mit einem Herz im Leib schnleunigst anhören.
- meistens war es laut, wild und schwitzig [↩]
- Naja okay, eigentlich nur fünf insgesamt, sofern ich mich nicht verzählt habe – aber davon immerhin drei Solokünstlerinnen. [↩]
- Ich auch nur dadurch, dass sie im Sommer wie es der Zufall so wollte in meiner Heimatstadt Mainz auftraten [↩]
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